Ein Interview mit Haider Eid: Schleichender Genozid

 Nach mehr als einem Monat als Israels Angriffe auf den Gazastreifen endeten, bleibt das Leben der 1,5 Millionen Palästinenser weiter ein täglicher Kampf. Israel hält weiterhin die todbringende Belagerung aufrecht, die verhindert, dass lebensnotwendige Dinge in den Gazastreifen kommen. Der größte Teil der Bevölkerung lebt in bitterer Armut. Haidar Eid (HE), ein Professor für Englisch, politischer Kommentator und seit langem Aktivist, lebt in Gaza-Stadt. Er hat Augenzeugenberichte gesammelt und eine Analyse des Gazakrieges geliefert.

 

Nach den Medien ist der Teil des Krieges mit Schießen und Bombardieren zu Ende. Doch Israel setzt die Luftangriffe auf Ziele im Gazastreifen alle paar Tage fort. Und zusätzlich zu den Bombardements bleibt Israels Belagerung weiter bestehen und sorgt dafür, dass alle möglichen Arten wichtiger Waren nicht in den Gazastreifen gelangen. Können Sie die augenblickliche Lage beschreiben?

 

HE: Der mutige israelische Historiker Ilan Pape hat über die hermetische, nun seit drei Jahren andauernde Belagerung des Gazastreifens gesprochen. Vor dem Krieg nannte Pappe diese Belagerung „schleichenden Völkermord“ - und er hatte damit vollkommen Recht. Schon vor dem Krieg starben 350 unheilbare Kranke, weil Israel sich weigerte, sie wegen medizinischer Behandlung aus dem Gazastreifen ausreisen zu lassen. Israel verweigerte ihnen Passierscheine, um in ägyptischen oder jordanischen Krankenhäusern behandelt zu werden. Ich spreche von Leuten mit Nierenversagen, Herzproblemen und Krebs.

 

Der Krieg verwandelte den schleichenden Völkermord in einen wirklichen Genozid – ich weiß nicht, wie man das sonst nennen soll. Während des Krieges wurden mehr als 1430 Menschen getötet.

 

Wir dachten, dass das Ende des Krieges auch das Ende der mittelalterlichen Belagerung des Gazastreifens mit sich bringt. Aber leider ist dies seit dem Ende des Gazamassakers nicht geschehen – ich kann dies wirklich nicht Kriegsende nennen, weil er in anderer Weise fort gesetzt wird.

 

Israel war es nicht gelungen, seine drei Kriegsziele zu erreichen, die es zu Beginn des Krieges nannte: die Hamasregierung zu stürzen, dem Abschießen von Qassams ein Ende zu setzen und ein neues Sicherheitsabkommen in Gaza zu erreichen.

 

Da ihnen dies misslungen ist, versuchten sie politisch zu erreichen, was ihnen militärisch mit Hilfe der USA nicht gelungen ist, nicht einmal mit der Obama-Regierung zusammen mit der EU und der Hilfe einiger arabischer Staaten.

 

Deshalb wurden alle Vorschläge für den Wiederaufbau des Gazastreifens bei der vor kurzem stattgefundenen internationalen Geber-Konferenz in Sharm-El Sheik an so viele Bedingungen geknüpft. Diese Bedingungen machen einen Aufbau unmöglich.

 

Als Außenministerin Hillary Clinton Tel Aviv und Ramallah besuchte, sprach sie (nur) über Bedingungen. Die 1. Bedingung für die Hamas und die Widerstandsgruppen im allgemeinen sei, dass sie den Staat Israel anerkennen. Die 2. Bedingung sei die Anerkennung aller von der PLO und Israel unterzeichneten Abkommen, was letztlich auch Anerkennung des Staates Israel bedeutet.

 

Aber im Zusammenhang damit gibt es einige große Fragen, die die USA und die Mainstream-Medien zu umgehen versuchen. Besonders: Welches Israel sollen die Palästinenser denn anerkennen?

 

Israel ist das einzige Mitglied, das keine anerkannten Grenzen hat. Soll die Apartheidmauer die Grenze des Staates Israel sein? Oder die Grenze vor dem 6-Tage-Krieg 1967? Die Anerkennung Israels in der jetzigen Situation würde Israel die weitere Expansion erlauben. Israel ist auch das einzige Land der Erde, das keine Verfassung hat. Es hat ein Grundgesetz. Das erste dieser Gesetze definiert Israel als einen Staat für alle Juden in aller Welt. Das wäre ein theokratischer Staat und kein Staat für alle seine Bürger. Da stellt sich die Frage: was geschieht dann mit den 1,2 Millionen Palästinensern, die als Bürger dieses Staates angesehen werden, die aber keine Juden sind? Und auch folgende Frage: was geschieht mit den mehr als 6 Millionen palästinensischen Flüchtlingen, die in der Diaspora leben? Nicht ein einziges Abkommen zwischen der PLO und Israel - mit den USA als Vermittler - erwähnt das Recht der Rückkehr, obwohl die UN-Resolution 194 zur Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge in ihre Heimat, in ihre Dörfer, und Städte aufruft, aus denen sie vertrieben wurden. Die Resolution 194 ruft auch zur Kompensation für die Ungerechtigkeiten auf, die die Flüchtlinge erlitten haben.

Aber all dies sind Dinge, von denen Israel will, dass die Palästinenser sie aufgeben, bevor die Gespräche beginnen. Wie Marx sagte: die Geschichte wiederholt sich selbst, erst als Tragödie und dann als Farce. Nun haben wir die Geberkonferenz erlebt und einen Besuch von Hillary Clinton. Sie sagte kein einziges Wort der Sympathie für den Kampf der Palästinenser. Das ist eine Tragödie und eine Farce.

 

Die Palästinenser müssen einen hohen Preis zahlen. Es ist die Fortsetzung eines genozidalen Krieges, der von Israel gegen Gaza ausgefochten und von der internationalen Gemeinschaft unterstützt wird. Und bei den Reden über einen angeblichen Wiederaufbau geht es nur darum, Israels Agenda durchzuführen.

 

Die USA und Israel rufen die Hamas auf, ‚auf Gewalt zu verzichten’, aber sie erkennen die unglaubliche Heuchelei dieser ihrer Forderung nicht an: Israel wendet nämlich ständig unglaubliche Gewalt gegen die Palästinenser an, und die USA liefert die Waffen, die Israel genau dies zu tun erlauben.Welche Art von Waffen hat die Widerstandbewegung im Gazastreifen? Primitive selbstgemachte Raketen und einige Gradraketen, die durch die Tunnel zwischen dem Gazastreifen und Ägypten geschmuggelt wurden. Aber jetzt können die Tunnel nicht benutzt werden. Israel hat sie wiederholt bombardiert.Wir sprechen über die viert stärkste Militärmacht der Welt mit 250 Atomköpfen, F-16-Bombern und Kampfhelikoptern gegen eine weitgehend wehrlose Bevölkerung. Wir sprechen nicht über zwei ebenbürtige Kriegsparteien.

 

Nach dem Völkerrecht besetzt Israel illegal die Westbank und den Gazastreifen. Israel verbietet illegal, mehr als 6 Millionen Palästinensern die Rückkehr in ihre Häuser und Städte.

 

Was wir fordern – auch ich als Teil der palästinensischen zivilen Gesellschaft, als Akademiker, als Aktivist – ist nur die Erfüllung der UN- Resolutionen und die des Sicherheitsrates und des Völkerrechts. Nach dem Völkerrecht wird uns ein Staat garantiert und das Rückkehrrecht.

 

Beim Unterzeichnen der Oslo-Abkommen 1993 machte die offizielle PLO-Führung ein Abkommen, das unsere Rechte und das Völkerrecht verletzt ( indem es diese wesentlichen nationalen Rechte wegverhandelte). Es ist nun für Israel und die USA zur Gewohnheit geworden, die Palästinenser als die schwächere Partei anzusehen, die immer mehr Konzessionen machen soll.Einer der größten Fehler, den die palästinensische Führung gemacht hat, war, dass sie angenommen hatte, die USA sei ein fairer Makler. Aber die USA war in der Tat wegen der pro-Israel-Lobby in den USA völlig voreingenommen. Ich denke, man kann den US-Imperialismus und den Zionismus im Nahen Osten nicht von einander trennen.Die USA griff den Irak an, besetzte ihn und beging an der irakischen Zivilbevölkerung einen Genozid. Sie tötete mehr als 1,5 Millionen Irakis wegen des Öls und um seine Interessen in dieser Region zu verfolgen und um den Staat Israel zu schützen.Die Amerikaner sind im Irak elendiglich gescheitert, so wie Israel im Libanon 2006 gescheitert ist. Und dann versuchten sie, die im Nahen Osten als Zielscheibe aus, die ihnen als die Schwächsten erschienen, nämlich die Bevölkerung des Gazastreifens. Zum Glück scheiterten sie auch hier. Israel versuchte 22 Tage lang vergeblich, den Widerstand auf seine Knie zu zwingen.Deshalb versucht man jetzt politisch, was militärisch nicht gelang.Die Bedingungen, die mit der Wiederaufbauhilfe beim Sharm el-Sheik-Gipfel und dem Besuch von Hillary Clinton verbunden sind, zielen dahin, den Wiederaufbau zu politisieren, indem das Geld und die Unterstützung über die palästinensische Behörde und PA-Präsident Mahmoud Abbas gehen soll. Nachdem sich Abbas mit Clinton getroffen hatte, warnte er den Iran, sich nicht in palästinensische Angelegenheiten zu mischen. Können Sie etwas dazu sagen, was hier vor sich geht?[…]Israel und die USA bemühen sich darum, den Iran und seine Schiitenführung als den neuen Feind der Palästinenser und der Araber, besonders der sunnitischen Araber hinzustellen. In andern Worten: sie treiben eine Identitätspolitik und versuchen nach dem Prinzip von ‚teile und herrsche’ vorzugehen, genau wie die Amerikaner es im Irak getan haben. Diese Methode hatte im Libanon keinen Erfolg; aber Abbas arbeitet noch immer mit den USA und Israel zusammen, um dies im Gazastreifen durchzuführen.Der Iran unterstützt nicht nur die Hamas. Der Iran hat seitdem der - von der USA unterstützte- Schah 1979 gestürzt worden war, den palästinensischen Widerstand unterstützt, indem es ihm eine Botschaft in Teheran zugestand.Der Iran leistet dem palästinensischen Widerstand etwas militärischen Beistand, so wie der Iran dem Widerstand im Libanon half. Es ist für uns wichtig zu verstehen, dass wenn die Palästinenser ihren Widerstand fortsetzen, sie die Unterstützung der Muslime, der Araber und der freiheitsliebenden Völker in aller Welt brauchen.Die Unterstützung von Seiten des Irans ist nicht an Bedingungen geknüpft, wie von Seiten der USA, der EU und anderen. Wir haben ein gemeinsames Projekt und gemeinsame Ziele: den amerikanischen Imperialismus im Nahen Osten zu bekämpfen und Palästina zu befreien. Deshalb zielen die USA und ihre Verbündeten, einschließlich mehrerer arabischer Regime, auf den Iran als Feind der Araber und Muslime in der arabischen Welt.Um auf die Bedingungen zurückzukommen, die an die Wiederaufbauhilfe geknüpft sind – ich denke nicht, dass irgendein Palästinenser mit einer Spur von Würde diese akzeptieren würde. Warum sollten wir Hilfe akzeptieren, die sich auf die Idee gründet, dass das , was im Gazastreifen geschah, eine Naturkatastrophe war, im Gegensatz zu einer von Menschen verursachten Katastrophe, die vom Staat Israel ausgelöst wurde, um den palästinensischen Widerstand zu brechen und die palästinensische Gesellschaft zu vernichten.Die Bevölkerung des Gazastreifens ist gestraft worden, weil sie bei einer demokratischen Wahl 2006 eine Partei, die Hamas, wählte, die die Oslo-Abkommen nicht unterstützte und die das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge fordert.Obgleich ich die Hamas ideologisch nicht unterstütze, war es eine demokratische Wahl des palästinensischen Volkes. Und die meisten, die Hamas in die Regierung wählten, sind keine Hamasunterstützer, sondern wollten eine Organisation wählen, die weder korrupt ist, noch die Oslo-Abkommen unterstützt.Seit der Oslo-‚Friedensprozess’ 1993 begann - bis heute - haben wir keinen unabhängigen palästinensischen Staat gesehen. Im Gegenteil: Israel vermehrte die Anzahl der Siedler auf der Westbank von 190 000 auf mehr als eine halbe Million und hat durch den Bau der Apartheidmauer mehr als 25% des Landes der Westbank enteignet, Groß-Jerusalem erweitert und bestehende jüdische Siedlungen auf der Westbank vergrößert.Israel hat deshalb die Errichtung eines unabhängigen palästinensischen Staates auf 22% des historischen Palästina unmöglich gemacht. Ich denke, das ist auch ganz gewöhnlichen Palästinensern klar, weshalb sie den Wiederstand unterstützen und nicht nur die Hamas als Organisation, sondern alle Wiederstandorganisationen wie die Volksfront für die Befreiung Palästinas, die Volkswiderstands-Komitees, den islamischen Jihad usw.

 

[…]

 

Ich glaube, dass wir uns auf eine 3. Intifada zu bewegen, die weithin vom allgemeinen Widerstand des palästinensischen Volkes abhängt und sehr wichtig von der globalen Boykott-, Divestment- und Sanktionen-Bewegung (BDS).Um nur ein paar der inspirierenden Beispiele von BDS-Aktivismus rund um die Welt zu nennen : es gibt mehr als 28 Universitätsgelände, die von Studenten in Großbritannien besetzt sind, einige in den USA und die Entscheidung des Hampshire-College, das Divestment von Israel praktiziert; dann gibt es mehrere Südafrikanische Solidaritätsgruppen.Wir wünschten uns sehr, eine internationale BDS-Kampagne nach der Apartheid-Bewegung, die letzten Endes 1994 zum Ende der Herrschaft der Weißen in Südafrika geführt hat und 1990 zur Befreiung von Nelson Mandela.ES SCHEINT wirkliche Begeisterung für den Aufbau einer solchen Bewegung zu geben, um die israelische Besatzung herauszufordern und eine bedeutsame Solidarität mit der palästinensischen Sache zu entwickeln. Aber manche Leute fragen sich noch, ob eine BDS-Kampagne ein ‚konstruktives Engagement’ unterbrechen würde, was so wesentlich für eine Lösung des Konfliktes wäre. Wie denken Sie über dieses Argument?DIE FRAGE des Dialoges zwischen Israel und den Palästinensern kann auf die Art und Weise geregelt werden wie seit 1993: zwischen Israel und der PA gab es ( viele) Verhandlungen und das Ergebnis war ein Massaker im Gazastreifen.Prinzipiell macht es für mich keinen Sinn, mit einer weit überlegeneren Besatzungsmacht einen ‚Dialog’ zu haben, ohne Mittel und Wege in Betracht zu ziehen, auf denen Widerstand die notwendigen Vorbedingungen schafft, um irgend etwas mit dem Dialog zu erreichen. ….Wegen des großen Abstands zwischen dem palästinensischen Opfers und dem israelischen Besatzer brauchen wir die Intervention der internationalen Gemeinschaft, wobei ich nicht an offizielle Körperschaften denke, sondern an zivile Vereine, Kirchen, Moscheen, Klubs, Studentengruppen, Gewerkschaften etcDas waren die Kräfte, die die Anti-Apartheid-Bewegung gegen Südafrika in den 80er und frühen 90er-Jahren voranbrachten…Dasselbe könnte auch in Palästina geschehen. Wegen des Ungleichgewichts der Mächte, benötigen wir die Intervention der internationalen Gemeinschaft; denn die Palästinenser werden nicht in der Lage sein, allein gegen die Israelis zu kämpfen, weil keiner gegen solch eine überwältigende Übermacht allein kämpfen kann. …Leider hat die politische Führung – weder auf der Rechten noch auf der Linken, weder die Hamas noch die Fatah oder die populäre Volksfront für die Befreiung Palästinas – kein internationalistisches Bewusstsein.Das einzige, worauf wir uns verlassen können, ist die Kraft des Volkes.Orginalartikel: Massacre in Slow Motion Übersetzt von: Ellen Rohlfs